Kat Morris
Als Buchansichten-Autorin Saku vor einigen Jahren in einem Heidelberger Antiquariat eine Ausgabe von „Lida’s Puppe“ aus dem Jahr 1896 aus dem Regal zog, ahnten wir noch nicht, dass dieses lustige, kleine Kinderbuch, zuerst erschienen 1885, uns auf die Fährte einer interessanten Frau führen würde.
Die „Lida“ gehört zur Puppenliteratur: Einem heute weitgehend vergessenen Kinderbuchgenre aus dem 19. Jahrhundert, in dem vor allem kleine Mädchen aus dem wohlhabenden Bürgertum über unterhaltsame Geschichten, in denen Puppen die Hauptrollen spielten, an ihre sozialen Pflichten und ihren Stand in der Gesellschaft herangeführt werden sollten. Wer jetzt jedoch glaubt, es ginge in der „Lida“ ganz nach Kaiserzeitklischee nur darum, perfekte Mütter und Hausfrauen aus den kleinen Leserinnen zu machen, hat weit gefehlt.

„Ich erwache in einer Pappschachtel und fange an nachzudenken“, beginnt „Lida’s Puppe“, erzählt aus der Ich-Perspektive der Puppe Finchen, die durchaus wert auf die hausfraulichen Fähigkeiten ihrer 8-jährigen Freundin Lida legt, aber vordergründig aus ihrem Puppenleben erzählt. Wenn Lida gerade nicht mit Finchen spielt, wird sie von anderen Kindern entführt und macht eine halbe Weltreise, ihre Freundin Minni, natürlich ebenfalls eine Puppe, wird im Garten erschossen, oder Finchen sieht mit an, wie Lidas 5-jährige Schwester Mieze, ein herrlich trockenhumoriges Highlight der Geschichte, ihre Babypuppe „aus Versehen“ aus dem Fenster eines Automobils wirft. Ganz generell denkt Finchen viel nach, nicht zuletzt über die eigene Existenz, was Emma Billers ganz besondere Puppengeschichte beinahe kafkaesk macht.
Wer war Emma Biller?
Nachdem wir die „Lida“ im Buchclub gelesen hatten, blieb eine Frage natürlich nicht aus: Wer war diese Emma Biller, die gleichzeitig so liebevoll, humorvoll und intelligent für kleine Mädchen des ausgehenden 19. Jahrhunderts schrieb? Geboren wurde Emma Biller am 07. März 1833 in Breslau (heute Wrocław in Polen) als Tochter eines Stadtrats. Im Jahr 1854 heiratete sie mit 21 Jahren den Historiker und Politiker Heinrich Wuttke, der zu diesem Zeitpunkt an der Universität in Leipzig lehrte. Emma und Heinrich pflegten enge Kontakte zu den wissenschaftlichen und künstlerischen Kreisen ihrer Epoche, Heinrich selbst war als gemäßigter Linker politisch aktiv, sein Sympathisieren mit der großdeutschen Richtung lehnte Emma jedoch ab.

Emmas Karriere als Kinder- und Jugendbuchautorin begann erst 1876, nachdem Heinrich Wuttke überraschend an einem Hirnschlag verstorben war. Emma blieb nicht in Leipzig, sondern zog mit ihrer Schwester Clara Biller, die unter dem Pseudonym Peter Tretin als Malerin, Journalistin und Schriftstellerin tätig war, nach München, wo sie ihre ersten Romane schrieb. Sie lebte in Paris, Italien und in der Schweiz, bevor sie 1886 zu ihrem Sohn, dem Folkloristen und Historiker Robert Wuttke, nach Dresden zog. Auch hier schrieb sie weiter, ging jedoch auch vor allem in der Rolle der Großmutter für ihre Enkelkinder Emma-Dorothea (genannt Madörchen), Heinz, Franz Hellmut und Ulrike, für die sie zwischen 1904 und 1909 ihre Familiengeschichte niederschrieb, auf. Emma verstarb im Jahr 1913 im Alter von 80 Jahren. Sie liegt neben Robert und weiteren Mitgliedern der Familie Wuttke auf dem Johannisfriedhof in Dresden bestattet.
Während Emmas Schaffen in der späten Kaiserzeit heute vergessen ist, war sie zu Lebzeiten eine bekannte und beliebte Kinder- und Jugendbuchautorin. So schreibt das illustrierte Familienmagazin „Die Gartenlaube“ 1903 anlässlich ihres 70ten Geburtstags: „Frau E. Wuttke-Biller, die unter dem Pseudonym E. Biller als Verfasserin zahlreicher Jugendschriften in weiten Kreisen bekannt geworden ist […]“. Ihre Romane wurden unter anderem bereits 1882 in „Über Land und Meer“, einem beliebten Unterhaltungsblatt, und 1900 im Literatur- und Kunstmagazin „Die Gegenwart“ wohlwollend besprochen. 1895 finden gleich mehrere ihrer Romane als Geschenktipps Erwähnung im Jahrbuch „Deutsches Mädchenbuch“, das jährlich neue beliebte Kinder- und Jugendromane vorstellte und Ausschnitte abdruckte.
Abbild eines Mädchenlebens
Besonders Emma Billers Puppengeschichten reihen sich gut in den Puppenliteratur-Kanon des 19. Jahrhunderts ein, der auch „Schicksale der Puppe Wunderhold“ von Antonie Klein (1839 unter dem Namen ihres Ehemanns Alexander Cosmar veröffentlicht, wiederrum stark basierend auf „Mémoires d’une poupée“ von Louise d’Aulnay, ebenfalls von 1839) umfasst, dem klaren Vorbild für „Lida’s Puppe“. Im Gegensatz zur „Wunderhold“, die oft überdramatisch und belehrend daher kommt, steht in der „Lida“ jedoch der Humor im Vordergrund und das authentische Abbilden eines Mädchenlebens um 1890, das entgegen moderner Klischees nicht nur aus strengen Regeln, Näharbeiten und Französischunterricht besteht: Lida spielt viel im Garten, sie stiehlt mit ihren Freund*innen Birnen, sie erzählt fantasievolle – und oft düstere – Geschichten über Riesen, Drachen und andere Märchenfiguren.
Ähnlich funktioniert „Die Konfusionstante“ von 1891, das sich an ältere Lesende richtet: Auch hier findet Emma Biller eine Balance zwischen dem respektierlichen Leben der Protagonistin Hilde und so einigen Freiheiten, die man gutbürgerlichen Mädchen der späten Kaiserzeit heute selten zugesteht: Als sie ihren Zug nach Frankfurt verpasst, weil „Konfusionstante“ Mile auf der Suche nach Warmbier aus Versehen ohne sie im falschen Zug Richtung Wien davonfährt, übernachtet Hilde kurzum auf einer Bank im Bahnhofslokal. Der Skandal bleibt aus. Emma Billers Romane sind geprägt von alltäglichen Details aus ihrer Entstehungszeit, jedoch auch nicht selten von Emmas eigenen Überzeugungen und Weltanschauungen, die im Kontext zu ihrer Epoche durchaus als links orientiert einzuordnen sind. Auch in „Lida’s Puppe“ und der „Konfusionstante“ stecken neben Birnenklau und denkenden Puppen ein paar fast schon sozialistische Ansätze.
Natürlich sind Emma Billers Romane – Ihre Kinder- und Jugendliteratur, sowie ihre ernsteren historischen Romane für ein älteres Publikum, wie zum Beispiel „Die Geschwister“ (1890) über die Befreiungskriege um 1815 – trotz allem Produkte ihrer Zeit, in denen auch immer wieder aus heutiger Perspektive recht zweifelhafte Inhalte stecken. Was Emma Biller jedoch von ihren Kolleg*innen unterscheidet, ist ihr scharfer Humor und ihre Bereitschaft, auch einmal abseits gesellschaftlicher Konventionen zu erzählen. Ihre Romane mögen aus vielerlei Gründen trotz ihrer damaligen Beliebtheit heute keine Kinder- und Jugendbuchklassiker sein – Eines sind sie aber auf jeden Fall: Höchst unterhaltsame, authentische Einblicke in die tatsächliche Lebensrealität von bürgerlichen Mädchen und jungen Frauen der Kaiserzeit, ganz abseits moderner Klischees und Vorurteile.
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Quellen:
Nachruf auf Heinrich Wuttke, Illustrirte Zeitung. 67 = Juli/Dez. 1876, Leipzig. S. 49-50.
„Frau E. Wuttke“, In: Die Gartenlaube, Leipzig 1903. S.2.
Insa Fooken / Jana Mikota (Hg.): Sollen wir Menschsein spielen? Eine kommentierte Anthologie deutschsprachiger Puppentexte [2016]
Wuttke-Biller, Emma: Die Geschichte unsrer Familie, erzählt von Großmutter, Emma Wuttke-Biller, ihren Enkelkindern, Dresden 1904 – 1909. (Handschrift)
Der Nachlass Emma Billers, der unter anderem Fotografien, Briefe und Emmas Familiengeschichte umfasst, befindet sich in der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden.
Fritz Abshoff (Hrsg.): Bildende Geister. Oestergaard, Berlin-Schöneberg 1905, S. 129

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